Dienstag, 10. August 2010
Das peacecamp-Projekt: why not peace?
Jugendliche aus vier Kulturkreisen im Gespräch über ihre persönliche Geschichte und die Geschichte ihrer Nationen
Insgesamt nahmen bisher an die 280 Jugendliche – je 70 jüdische und arabische Israelis, Ungarn und Österreicher – sowie ca. 45 Erwachsene – Lehrer, Gruppen- und Workshopleiter – an peacecamps teil, die seit 2004 alljährlich in Österreich, die letzten vier davon in Reibers im Waldviertel, und einmal auch in Israel stattfanden.


Wenn ihr wollt, ist Frieden kein Märchen




Immer wieder werde ich gefragt, ob es denn den Aufwand lohne – 8 bis 10 Jugendliche pro Gruppe, also maximal 40 Jugendliche pro peacecamp, seien doch eine sehr kleine Zahl, und 10 Tage eine relativ kurze Zeit, wolle man, wie ich, eine neue Generation von Staatsbürgern, vielleicht von künftigen Politikern und Meinungsbildnern, gegen das Weitergeben von Rassismen, gegen Starrsinn, Borniertheit, Rachsucht und Selbstgefälligkeit immunisieren und ihnen Rüstzeug für andere, neue Formen zwischenmenschlichen Agierens nahebringen. Dies ist in der Tat mein Anliegen und mein Ziel: Ich möchte junge Menschen dazu anregen, das, was sie von ihren Eltern, Lehrern, Büchern, Politikern gehört, gelesen und mitbekommen haben, zu hinterfragen, ja hinter sich zu lassen und sich auf etwas völlig Neues, noch nie Erlebtes, noch nie Gelebtes einzulassen – um es für immer in ihr Leben mitzunehmen und weiterzugeben.

Ob ich nicht sehr naiv sei, werde ich gefragt, größenwahnsinnig oder sonst wie verrückt, ob ich denn wirklich meine, in nur zehn Tagen Menschen, ja die ganze Welt verändern zu können. Nein, das glaube ich nicht, habe doch weder ich noch einer meiner Workshopleiter oder Mitarbeiter den jungen Menschen, die zu einem peacecamp kommen, etwas Weltverbesserndes anzubieten, kein Patent-Rezept, nicht mal eine Idee.

peacecamp ist ein Ort des Lernens, aber keiner, an dem Erwachsene den jungen Menschen irgendetwas beibringen könnten: "Wir Erwachsenen haben versagt, uns ist es nicht gelungen, euch in einer friedlichen Welt groß werden zu lassen." muss ich jeder Gruppe gleich zu Beginn mitteilen. Vielleicht aber können die hier anwesenden Menschen selbst neue Ideen entwickeln, sich auf Neues einlassen und hier in Reibers, diesem winzig kleinen Ort, fernab von Konsum, Technologie und all den fragwürdigen Errungenschaften unserer Zeit irgendetwas völlig Neues erleben, erarbeiten, entdecken, das sie von hier mitnehmen und dann weitergeben können.

Wir gehen mit jedem peacecamp an die nur 4 km entfernte Grenze zur Tschechischen Republik, um den jungen Menschen zu zeigen, dass es in der Geschichte der Menschheit sehr wohl Veränderungen gegeben hat, die keiner für möglich gehalten hätte. Jedes Mal treffen wir hier Menschen, die seit jeher in dieser Gegend leben und uns erzählen, wie es hier einmal war: ein Todesstreifen mit Stacheldraht, schikanösen Grenzposten und Schüssen, geteilte Familien, zerrissen durch eine nunmehr unsichtbar gewordene Grenze. Jedes Mal suchen die Jugendlichen diese Grenze – nichts als ein rostiger Stahlpfosten mit der Aufschrift "Staatsgrenze" ist von ihr geblieben: Hier kann man mit einem Fuß hüben und dem anderen drüben stehen, oder – und das finden die jungen Leute aus Israel besonders kurios – auf dem Grenzstein Platz nehmen und dabei mit einem A… in zwei Staaten sitzen, mit einer Backe in Österreich und der anderen in Tschechien.

Botschafter des Friedens




Sehr reichhaltig und ungewöhnlich sind die Erfahrungen, die die Teilnehmer eines peacecamps in den zehn Tagen ihres Beisammenseins machen: Sie bringen Einiges an Vorbereitung mit und teilen dies mit den jeweils Anderen: eine Dokumentation zur eigenen persönlichen und Familiengeschichte; Aufzeichnungen zur Kultur- und Religionsgeschichte der eigenen Gruppe; ein Stück Zeitgeschichte, das sie mit der Nachbarsgruppe verbindet oder von dieser trennt; Ideen zur Gestaltung eines "Culture Evenings". Während des peacecamps werden die Jugendlichen von Kunstpädagogen und -therapeuten dazu angeleitet, einander diese Inhalte in möglichst kreativer und erlebnisreicher Weise zu vermitteln; in einer psychotherapeutisch geführten "Large Group" können diese Themen vertieft und aufgearbeitet werden; hier fließen nicht selten Tränen, Tränen der Rührung oder der Kränkung, des Schmerzes, der Wut, hier kann man sich konfrontieren, aber auch versöhnen, oder sich neuen Fragen stellen, wie der der persönlichen Verantwortung für das gesellschaftliche oder politische Geschehen seiner Zeit; oder man kann persönlichen Fragen nachgehen, wie der des subjektiven Glücksempfindens, des persönlichen Gefühls der Zufriedenheit und der notwendigen Abstriche und Kompromisse, die das Leben in einer Gemeinschaft uns allen abverlangt.

Nicht selten gelangen die Jugendlichen zu interessanten und neuen Erkenntnissen, zum Beispiel den Unterschied zwischen den Generationen betreffend: "Das ist der Konflikt unserer Großeltern und Eltern, ich habe mit DIR kein Problem." ; "Ich werde heimfahren und erzählen, dass ich mit acht Palästinensern im selben Schlafsaal wohnte, von denen keiner den Terror befürwortet."; "Was, ihr (jüdische Israelis) setzt euch für unsere (der Araber) Rechte ein?", "Was, auch in Ungarn gibt es eine diskriminierte Minderheit, die Roma?" , "Was, es gibt in Österreich Menschen, die den Holocaust leugnen?". Diesen und andere Fragen stellen sich die Jugendlichen am peacecamp, aber auch Fragen der Vergangenheitsbewältigung und möglicher Aussöhnung nach Kriegen und schwersten Entgleisungen von Völkern und Nationen.



Wie finden Juden und Österreicher nach dem Holocaust zueinander, wie wachsen die von blutigsten Kriegen und despotischen Regime verwundeten Staaten Europas wieder zusammen, wie finden Kinder traumatisierter Eltern Wege in eine neue, eigene Zukunft, wie kann man das Rad von Rache und Vergeltung zum Stillstand bringen, der Geschichte eine neue Wendung geben, vor allem aber: Was kann ich, was kannst du, was kann jeder Einzelne von uns dazu beitragen?

Diesen und vielen anderen Fragen gehen die Teilnehmer des peacecamp-Projekts nach und tun dies gemeinsam, auch dann, wenn mancher Konflikt (noch) unlösbar scheint. Am Ende erhält jeder von ihnen ein Zertifikat, das sie als "Ambassador of Peace – Botschafter des Friedens" auszeichnet.

Einmal peacecamper, immer peacecamper

Unabhängige Forschung, die unser Projekt evaluiert, bescheinigt tatsächliche Veränderungen bei den Jugendlichen; sie sind nach einem peacecamp selbstsicherer, reflektierter, wortgewandter, mehr bereit, Konflikte in Worte zu fassen und angesichts quasi "unlösbarer Probleme" originelle, gewaltfreie Lösungswege einzuschlagen; dies hören wir auch von ihren Lehrern und Eltern, die uns hinterher oft danken, uns ihre Wertschätzung ausdrücken und bestätigen, dass ihr Kind vom peacecamp wie verändert – reifer, souveräner, in sich gefestigter – zurückgekommen ist; von den Jugendlichen selbst erfahren wir, dass die am peacecamp entstandenen Verbindungen und Freundschaften über die Grenzen der Länder, Nationen, Religionen und Altersgruppen hinweg erhalten bleiben, Grüppchen von Jugendlichen einander besuchen und gemeinsame Reisen machen, wobei ihre Eltern die gegenseitigen Besuche unterstützen und bei der Beförderung, Unterbringung und Verpflegung der Jugendlichen behilflich sind.

Eine Gruppe von acht Jugendlichen der peacecamps 2007 und 2009 kam uns heuer in Reibers besuchen. Als Gastgeschenk brachten sie einen selbstgedrehten Film mit, mit dem sie nicht nur uns Veranstaltern, sondern auch dem Leiter des Videoworkshops ihres peacecamp-Jahrgangs große Freude machten: einmal peacecamper, immer peacecamper war ihr Motto, und ich sehe darin eine Bestätigung meiner Überzeugung, dass auf jedem peacecamp etwas gesät wird, das noch lange, vielleicht immer, Früchte tragen wird.

(Anm.: Zur leichteren Lesbarkeit wird in diesem Text die männliche Form verwendet; es sind aber – sofern nicht anders angegeben – selbstverständlich männliche wie weibliche Personen gemeint.)

Evelyn Böhmer-Laufer
Initiatorin und Leiterin des Projekts peacecamp
August 2010

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